Charles Gide (1847-1932)

Charles Gide ist Nationalökonom und eine herausragende Gestalt in der Genossenschaftsbewegung und im Sozialchristentum Frankreichs. Leitfaden seines Werkes ist der Begriff der Solidarität.

Ein herausragender Student und akademischer Lehrer

  • Charles Gide (1847-1932)
    Charles Gide (1847-1932) © Wikimedia commons

Charles Gide verbringt seine Kindheit in Uzés; sein Vater, Protestant, ist dort Präsident des Zivilgerichtshofes. Sein Onkel, der Vater des Schriftstellers André Gide, ist ein herausragender Jurist. Charles Gide studiert in Paris, und schon im Titel seiner Doktorarbeit von 1872 : « Le droit d’association en matière religieuse»[1] kann man die Leitbegriffe seines ganzen Lebens erkennen: Freiheit, Vereinigung und Religion.

Nac der Aggregation wird er nacheinander Professor für Politische Ökonomie an den juristischen Fakultäten von Bordeaux (1874), Montpellier (1880) und schlieβlich Paris (1898). Er lehrt an der Ecole des Ponts et Chaussées und an der Ecole Supérieure de Guerre und wird 1921 ins College de France berufen.

Seine berühmten Principes d’économie politique[2] haben mit 26 Auflagen in französischer Sprache und 19 Übersetzungen, davon einer in Blindenschrift,  groβen Erfolg. Im Februar schreibt André Gide an seinen Onkel : « Welchen Nutzen habe ich schon aus dem gerade Gelesenen gezogen, und wie ich die Aufrichtigkeit Deiner Darlegungen schätze… ! »

Charles Gide gründet 1887 die Revue d’économie politique.

Leiter der französischen Genossenschaftsbewegung

  • Cover der Principes d'économie von Charles Gide © Collection privée

Von 1886 an wird er zum Theoretiker dessen, was man gemeinhin die Schule von Nîmes nennt, einer französischen Genossenschaftsbewegung die vor allem im Süden Frankreichs agiert und von Protestanten (Auguste Fabre, Edouard von Boyve) gefördert wird. Sie handeln unter der Idee einer emanzipatorischen Genossenschaft, einer Struktur der Demokratievermittlung und wirtschaftlichen Effizienz, wodurch die Herrschaft des Profits abgelöst werden soll ohne in die Staatslenkung zu fallen. Die Genossenschaftsidee wird durch einen ersten Kongress in Paris (1885) und die Monatszeitschrift Die Emanzipation, einer politischen und sozialen Wirtschaftszeitung, populär gemacht. Die Idee kommt hauptsächlich in Nîmes zur Ausführung, wo sich Charles Gide bei einer „Verbraucher-Kooperative“ beteiligt und sich den konkreten Problemen in der Leitung und den Konflikten der Genossenschaften mit dem privaten Handel widmet.

1888 erfolgt die Gründung des „Protestantischen Vereins zum Studium sozialer Fragen“ in Nîmes mit Pastor Fallot als Präsident und Charles Gide als Vize-Präsident.

Unter diesem Prinzip der Solidarität, dem sich Männer wie Henri Marion, Emile Durkheim und Léon Bourgois unterstellen, suchte man einen Mittelweg zwischen Liberalismus und Marxismus. Die Solidarität „ist nicht wie Freiheit oder Gleichheit ein reines Ideal: sie ist eines der durch Wissenschaft und Geschichte am besten fundierten Fakten, die gegenseitige Abhängigkeit der Menschen vergröβert sich von Tag zu Tag.“

Einer der Gründer des Sozialchristentums

Charles Gide strebt in all seinen Handlungen danach, seinem groβen moralischen Anspruch gerecht zu werden. Dabei unterstreicht er den religiösen Wert dieser „Neuen Schule“, der in der Solidarität, wie sie der Apostel Paulus in seinen Briefen formuliert, gründet. Nach der Gründung des Sozialchristentums durch Tommy Fallot im Jahre 1888 ist er Vize-Präsident, 1922 Präsident dieser Bewegung.

Als Dreyfus-Anhänger und Gefolgsmann des französischen „Assoziations“-Sozialismus ist er dem Sozialgedanken verbunden, aber kein Parteigänger des revolutionären Sozialismus. Er geht an die verschiedenen  sozialen Probleme des ausgehenden 19. Jahrhunderts mit relativer Mäβigung heran, um den etablierten Protestantismus nicht zu beeinträchtigen, der weniger Gewicht auf die „soziale Frage“ legt, die sich mit Wirtschaftskrise und dem Emporkommen des Marxismus dennoch durchsetzt: er will einen dritten Weg zwischen einer dem sozialen Problem gegenüber blinden Religion und einem der intelligiblen Dimension des Menschen gegenüber tauben Sozialismus finden.

Charles Gide wird im Herbst 1923 in die Sowjetunion eingeladen, nachdem er sich in mehreren Artikeln entschieden gegen den Bolschewismus gewandt hatte. Eine „gesamtgenossenschaftliche Organisation“ scheint ihm nun möglich, aber der Kommunismus erscheint ihm ein wenig „zu rot“ …. Sein vom Bürgertum wie von der Linken kritisiertes Werk wird wiederentdeckt. Neben dem überall präsenten Begriff der Solidarität findet man dort bereits viele der heutigen Probleme angesprochen: Überalterung der Bevölkerung, Probleme der Sozialgesetzgebung, besonders das der Renten, und sogar Überlegungen zur Errichtung eines Staates Israel.

 

[1]Das Recht zur Vereinigung auf dem Gebiet der Religion

[2]Prinzipien der politischen Ökonomie

Bibliographie

  • Bücher
    • PENIN Marc, Charles Gide (1847-1932) : l’esprit critique, L'Harmattan, Paris, 1997

Dazugehörige Vermerke