Das Elsass

Wenige französische Provinzen haben so viele Traumatisierungen erlebt wie das Elsass, das zwischen zwei Annexionen an das Deutsche Reich und zwei Wiedereingliederungen in den französischen Staatsverband hin- und her geworfen wurde. Die protestantische Gemeinde nimmt mit unterschiedlichem Geschick an diesen Umwälzungen teil, das europäische Ideal bietet der gesamten Bevölkerung die Möglichkeit, neue Hoffnung zu schöpfen.

Das Elsass von 1871 bis 1918

  • Um die Poilus (französische Soldaten im Ersten Weltkrieg) zu empfangen, Gravur von Hansi, 1918

Die Annexion des Elsass und eines Teils Lothringens – des Mosel-Gebiets – an das Zweite Deutsche Reich (Frankfurter Friedensvertrag vom 10. Mai 1871) bedeutet für die Bevölkerung einen gewaltigen Schock. Als 26. Land wird es unmittelbar von Preußen regiert, das allen Strukturen und Institutionen seine Gesetze aufzwingt.

Die Elsässer schwanken : Bleiben bedeutet die Annahme der deutschen Staatsangehörigkeit, Gehen den Bruch mit ihrer gesamten Vergangenheit. Mehr als 50.000 Elsässer (im Wesentlichen höhere Angestellte, Angehörige der freien Berufe, Intellektuelle) gehen nach Frankreich oder in die Schweiz.

Der Aphorismus „katholisch und französisch, protestantisch und deutsch“ („catholiques français, protestants allemands“) ist nicht ganz falsch, viele Protestanten entscheiden sich für die deutsche Herrschaft, mit Ausnahme der wirtschaftlichen Eliten und der „Liberalen“, die weiterhin französisch sprechen.

Die religiöse Tätigkeit im Rahmen der deutschen evangelisch-lutherischen Kirche ist durch eine zunehmende Betätigung im sozialen Bereich gekennzeichnet. Die Fakultät für protestantische Theologie in Straßburg genießt großes Ansehen, das durch die starke Persönlichkeit Albert Schweitzers noch wächst.

Das Elsass im Ersten Weltkrieg (1914-1918)

Es ist dies eine besonders schwere Zeit. 250 000 Elsässer werden in die deutsche Armee eingezogen und dann an die russische Front geschickt. Es handelt sich um eine echte Diktatur, sämtliche öffentlichen Freiheiten werden aufgehoben. Etwa 18 000 Elsässer kämpfen jedoch auf französischer Seite.

Die Wiedereingliederung von Elsass-Lothringen nach 1918

Der Einmarsch der französischen Truppen wird begeistert begrüßt. Aber es treten bald Missverständnisse auf : Den „Innerfranzosen“ („Français de l’intérieur“) sind die tiefgreifenden Veränderungen, die von der deutschen Verwaltung eingeführt wurden, insbesondere Neuheiten wie die ersten Dezentralisierungsmaßnahmen, unbekannt. Der Pariser Jakobinertum bestellt eine aufeinanderfolgende Reihe von Verwaltern, die mit den elsässischen Besonderheiten wenig vertraut sind. Der Gedanke, im Elsass, wo das napoleonische Konkordat weiter gilt, die französische Gesetzgebung einzuführen, die seit 1905 die Trennung zwischen Kirchen und Staat regelt, erregt beträchtlichen Widerstand und leistet Autonomiebestrebungen Vorschub.

Das Elsass im Zweiten Weltkrieg (1939-1945)

Die Kriegserklärung führt zur Evakuierung eins Drittels der elsässischen Bevölkerung in den Süden Frankreichs, das Elsass wird vom Dritten Reich de facto annektiert und die Hitler unmittelbar unterstehende Zivilverwaltung erweist sich als besonders brutal. Die seit 1941 offiziell etablierte NSDAP weitet ihre christentumsfeindliche Politik aus, hebt die auf dem Konkordat von 1801 beruhende Regelung auf, und die Kirchen werden privatrechtliche religiöse Vereinigungen. Von 1942 an werden Elsässer zwangsweise in die Wehrmacht eingezogen (die „Malgré Nous“) und an die russische Front geschickt. Im Elsass herrscht der Terror. Das Schreckenslager Schirmeck ist gleichbedeutend mit Folter, und das Konzentrationslager Struthof steht in einer Reihe mit den anderen Todeslagern.

Die erneute Wiedereingliederung : Elsass-Lothringen ab 1945

Die Befreiung (November 1944 – März 1945) bringt die Wiederherstellung der französischen republikanischen Legalität, dabei werden die elsässischen Besonderheiten bestätigt : Aufrechterhaltung der Konkordatsregelungen für die Kulte, Schulwesen nach lokalem Recht, Vereinsrecht.

Die Säuberung wirft gravierende Probleme auf und artet häufig in Abrechnungen aus, manchmal zwischen Katholiken und Protestanten, wobei Erstere die Letzteren der Kollaboration bezichtigen. Die von der Front zurückkehrenden Zwangsrekrutierten („Malgré Nous“) werden erniedrigt. Glücklicherweise vermeidet der Einsatz effizienter Präfekten, die das Elsass kennen, die nach 1918 begangenen Irrtümer. Sie fördern den Wiederaufbau und die Wiederbelebung der Wirtschaft.

Bis zum Ende dieses so tragischen 20. Jahrhunderts lässt sich ein langsamer Rückgang des religiösen Einflusses feststellen. Wenn auch die Zahl der praktizierenden Protestanten abnimmt, so bleibt ihre Gemeinschaft doch weiterhin sehr aktiv im wirtschaftlichen und universitären Bereich. Im Übrigen sorgen nach 1968 junge Pfarrer für die Vitalität der Theologischen Fakultät Straßburg.

Die wesentlichen Leitgedanken dieser Epoche sind die ökumenische Bewegung, für die sich die elsässischen Kirchen aktiv einsetzen, und die europäische Einigung, der sich das Elsass entschlossen zuwendet.

Das Elsass

Bibliographie

  • Bücher
    • ENCREVÉ André, Les protestants en France de 1800 à nos jours. Histoire d’une réintégration, Stock, Paris, 1985
    • MAYEUR Jean-Marie et HILAIRE Yves-Marie, Dictionnaire du monde religieux dans la France contemporaine, Beauchesne, Paris, 1985-, Tome 9
    • VOGLER Bernard, Histoire des Chrétiens d’Alsace des origines à nos jours, Desclée de Brouwer, Paris, 1994
    • VOGLER Bernard, Histoire politique de l’Alsace, La Nuée bleue, Strasbourg, 1995
    • WOLFF Philippe (dir.), Les protestants en France, 1800-2000, Privat, Toulouse, 2001

Dazugehörige Vermerke

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